Bei einem Streifzug durch die facettenreiche Landschaft soziologischer Klassiker wird man an seinem Namen nicht vorbeikommen: Niklas Luhmann gehört zweifellos zu den herausragenden Größen seines Fachs, sein ebenso umfangreiches wie anspruchsvolles Werk beeinflusst die Grundlagen und Theoriediskussionen der Soziologie und vieler anderer Disziplinen bis heute. Vor 40 Jahren erscheint sein Hauptwerk Soziale Systeme – ein willkommener Anlass, um einen Blick auf das Leben dieses faszinierenden Denkers und sein wissenschaftliches Werk zu werfen.
Teil 1: Luhmanns Lebensweg – Eine Reise mit Umwegen
Die schöne Hansestadt Lüneburg ist es, in der Niklas Luhmann am 8. Dezember 1927 zur Welt kommt. Seine Intelligenz macht sich schon früh dadurch bemerkbar, dass er noch vor der Einschulung das Lesen lernt. Auch während der Schulzeit auf dem traditionsreichen Gymnasium Johanneum macht der begabte Schüler durch Fleiß und Neugier auf sich aufmerksam, zieht das stundenlange Verweilen in der öffentlichen Ratsbibliothek dem Knüpfen sozialer Kontakte vor. Auffällig ist aber vor allem die politisch liberale Gesinnung: Die Sommerferien verbringt die Familie häufig in der Schweiz, wo man noch ungezwungen über politische Ansichten diskutieren
konnte, die im Dritten Reich längst nicht mehr denk-, geschweige denn sagbar waren.
Aufwachsen im Dritten Reich
Luhmanns Kindheit und der Beginn seiner Jugend fällt mitten in die dunkelste Zeit Deutschlands. Mit 12 Jahren erlebt er den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Mit gerade ein mal 15 Jahren erfolgt die Musterung, Ergebnis: wehrtauglich. Von da an ändert sich sein Alltag drastisch; statt Lektüre gibt es jeden Vormittag drei Stunden Vorbereitungsdienst für den Krieg, ständiges Marschieren und Grüßen auf den Führer ist an der Tagesordnung. Später wird Luhmann in einem Interview mit Wolfgang Hagen, das als Biographieersatz herhalten soll, die Selbstdarstellung des Regimes als widerlich und den militärischen Alltagsdrill als unangenehm bezeichnen.
1944, als viele der besten Soldaten Deutschlands bestenfalls im Lazarett, schlimmstenfalls unter der Erde liegen, beruft man ihn schließlich als Luftwaffenhelfer an die Front. Es wäre also nicht ganz unwahrscheinlich gewesen, dass die aufstrebende und vielseitige Karriere, welche der junge Denker noch vor sich hatte, mit dem Tod auf dem Schlachtfeld ein jähes Ende gefunden hätte. Stattdessen kommt er noch im selben Jahr in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wird in ein Lager nach Marseille gebracht. Für alle 18 -55 Jährigen dort gilt Zwangsarbeit im Bergwerk, von der Genfer Konvention „keine Spur“. Luhmann selbst hat mit seiner Minderjährigkeit doppeltes Glück im Unglück: Sie erspart ihm nicht nur die körperlichen Strapazen dieser sklavenähnlichen Schufterei, sondern ist auch der Grund für seine Entlassung aus der Gefangenschaft nur wenige Monate nach Kriegsende. Er kehrt für einen Übergangskurs zur Erlangung der Hochschulreife zurück und beginnt nach erfolgreichem Abschluss ein Jahr später ein Studium der Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität. Nicht nur der innige Wunsch des Begreifens sozialer Strukturen und des Schaffens von Ordnung „in dem Chaos, in dem man lebte“, sondern auch die Erfahrung aus der Kriegs- und der unmittelbaren Nachkriegszeit sind für die Wahl seines Studienfachs ausschlaggebend. Eine akademische Karriere schwebt ihm zunächst nicht vor, ursprünglich will Luhmann Anwalt werden. Die Wissenschaft vom Sozialen selbst stand zu diesem Zeitpunkt als Studienfach ohnehin nicht zur Auswahl.
Der Weg vom Juristen…
Luhmann kommt also zunächst als Jurist auf den Weg, und man sieht zunächst nicht viel von dem profilierten Soziologen, der er einmal werden wird – alles sieht nach dem Beginn einer ganz gewöhnlichen Juristenkarriere aus. Zwar ist schon zu dieser Zeit das Interesse für soziologische Sachverhalte vorhanden, aber nach der Beendigung des Studiums 1949 kehrt Luhmann zunächst nach Lüneburg zurück und absolviert bis 1953 eine Referendariatsausbildung. Die nächsten Jahre verhalten sich – ganz dem Klischee der bürokratischer Tätigkeiten entsprechend – als das genaue Gegenteil zu der Aufregung, die sein theoretisches Schaffen später auslösen wird: bis 1960 Anstellung am Oberverwaltungsgericht in Lüneburg, anschließend Delegation ins niedersächsische Kulturministerium. Viel Büro- und Schreibarbeit, wenig Abwechslung, keine Änderung in Sicht. Das ändert sich mit einem unverhofften Zufall, ohne den Luhmann sein Dasein in der Administration möglicherweise bis zum bitteren Ende gefristet hätte: ein Ausschreiben liegt auf seinem Tisch, Harvard vergibt zwei deutsche Forschungsstipendien für einen einjährigen Forschungsaufenthalt. Eigentlich soll Luhmann die Unterlagen nur austeilen, bewirbt sich aber kurzerhand selbst – und wird genommen. In Harvard angekommen, trifft er auf den einflussreichsten soziologischen Theoretiker seiner Zeit, Talcott Parsons. Erstaunlich ist es, dass Luhmann als Fachfremder mit dem Theorieveteran auf Augenhöhe über die Perspektive des Sozialen diskutieren kann. Und noch erstaunlicher ist, dass Luhmann seinem Lehrer nicht folgen wird. Dieser ist zwar angeregt von den Gedanken des Fachjuristen („It fits quite nicely!“); er meint schnell zu erkennen, wie sie in sein Theoriegebäude eingebaut werden können. Doch Luhmann merkt seinerseits, dass die Konzeption Parsons trotz unbestreitbarer wissenschaftlicher Innovationsstärke auch einige Schwächen hat, deren Korrektur von Parsons Theorie wegführt.
…zum Soziologen
Die Begegnung hat Folgen und legt den ersten Grundstein für Luhmanns wissenschaftliche Laufbahn. Zurück in Deutschland wechselt er 1962 vom Kultusministerium zum Forschungsinstitut an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer – eine Universität kam für ihn damals noch nicht als Arbeitsstätte in Frage, hätte dies doch das Aufgeben seines Beamtenstatus erfordert und finanzielle Einschränkungen mit sich gebracht. So aber hat er neben den Arbeitsaufträgen genug Zeit, um seinen eigenen Forschungsinteressen
nachzugehen. Und noch eine zweite Begegnung, die Luhmanns Leben nachhaltig verändern soll: Als er 1965 eine Stelle als Abteilungsleiter an der Sozialforschungsstelle der Universität Münster annimmt – damals die größte sozialwissenschaftliche Forschungsinstitution Deutschlands – lernt er den Soziologen Helmut Schelsky kennen. Der erkennt das hiesige Talent Luhmanns zur theoretischen Arbeit und kümmert sich darum, dass dieser nicht den regulären Studienverlauf absolvieren muss, um nach vielen Jahren irgendwann mal Professor zu werden. So erlebt Luhmann 1966 sein annus mirabilis: Promotion im Februar, Habilitation im Juli, direkter Anschluss einer Vertretungsprofessur. Beide Abschlussarbeiten sind fertig gewesen, da hat Luhmann noch in Speyer geforscht. Schelsky macht Luhmann auch klar, dass das, was er eigentlich will – intensive Forschungsarbeit im Einklang mit ausreichend konzeptioneller Freiheit – prinzipiell nur an einer Universität möglich wäre. Seine Überzeugungsarbeit trägt Früchte, und Luhmann wird erster ordentlicher Professor an der 1969 neugegründeten Universität in Bielefeld. Als Ihm ein Fragebogen zur Benennung seines Forschungsvorhabens ausgeteilt wird, gibt er als Antwort einen legendären Einzeiler, der von den vielen humoristischen Aussagen Luhmanns die wohl bekannteste ist: „Projekt: Theorie der Gesellschaft, Dauer: 30 Jahre, Kosten: keine.“ Und Luhmann sollte Recht behalten: 1997 erscheint sein Abschlusswerk mit dem paradoxen Titel „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, in welcher er auf über 1100 Seiten sein monumentales Forschungsvorhaben innerhalb der vollmundig angekündigten Laufzeit zu Ende führt. Wenig später, am 6. November 1998, stirbt Luhmann kurz vor seinem 71. Geburtstag im nordrhein-westfälischen Oerlinghausen.
Der hölzerne Gesprächspartner
Sein theoretisches Werk hält Luhmann in rund 60 Büchern und 500 Artikeln fest – doch hinter diesem Zeugnis ungeheurer Schreibwut steckt ein Geheimnis. Luhmann denkt nicht alles alleine, hat beim Schreiben immer einen äußerst einfallsreichen Gesprächspartner an seiner Seite. Er besteht aus sechs Buchenholzkästen mit jeweils vier Auszügen und drei einzelnen Behältern aus verstärktem Karton: die Rede ist von seinem berühmtem Zettelkasten. In seiner fast 30-jährigen Lehr- und Forschungstätigkeit wächst dieses ausdrucksstarke Symbol außerordentlicher Wissbegierde auf etwa 90.000 handschriftliche Zettel im DIN-A6-Format heran. Der Stellenwert, den die Erschließung dieses gewaltigen Vermächtnisses für die soziologische Nachwelt hat, lässt sich an einem Forschungsvorhaben mit dem anmutigen Namen „Theorie als Passion“ ablesen, welches 2014 von der Universität
Bielefeld ausgerufen wurde. Projekt: Erschließung von Luhmanns Nachlass, Dauer: 15 Jahre, Kosten: 5 Millionen Euro. Dazu gehört vor allem die Digitalisierung des Zettelkastens. Luhmann betont öfters, dass die Arbeit mit dieser gigantischen Zettelwirtschaft ihn mehr Zeit kostet als das Schreiben der Bücher selbst. Nicht auszumalen, welches Ausmaß seine wissenschaftliche Produktivität mit den technischen Mittel angenommen hätte, über welche die gegenwärtige Gesellschaft zur Verarbeitung und Speicherung von Informationen verfügen kann. Aber dazu gehört auch die Herausgabe unveröffentlichter Werke, denn selbst ohne die Möglichkeiten der digital-vernetzten Welt lagern im Nachlass des Soziologen auch mehr als 35 Jahre nach seinem Tod eine ganze Reihe an publikationsreifen Schriften. So werden wir uns auch noch in Zukunft auf bisher unbekannte Ergebnisse der Kommunikation zwischen Luhmann und seinem hölzernen Gesprächspartner freuen dürfen. Dem Zettelkasten sei Dank.
Felix Werner