Zdj.: Jean Christophe Bott

Katastrophe in Blatten –Eis, das vom Himmel fiel.

Blatten, Kanton Wallis, 28. Mai 2025 – an diesem Tag schien die Zeit im kleinen Alpenort buchstäblich stillzustehen. Vor den Augen von Rettungskräften, Wissenschaftlern und geschockten Bewohnern löste sich eine etwa neun Millionen Tonnen schwere Felsmasse vom Hang des Kleinen Nesthorns. Innerhalb weniger Minuten stürzte sie auf den darunterliegenden Birch-Gletscher, der unter der Last zerbrach und in das Tal abrutschte. Eine Lawine aus Eis, Schlamm und Geröll ergoss sich über das Dorf Blatten und den angrenzenden Weiler Ried und zerstörte sie fast vollständig.

Klingt wie das Drehbuch eines Katastrophenfilms? Leider ist es Realität – und eine, die sich immer häufiger wiederholen könnte.

20 Minuten: Startzeit.

Bereits seit einigen Wochen war bekannt, dass Blatten in Gefahr ist. Wissenschaftler, die den Hang des Kleinen Nesthorns überwachten, bemerkten, dass sich der Boden bewegte – zunächst langsam, dann immer schneller. Die Evakuierung des Dorfes begann am 19. Mai. Ein Alarm wurde ausgelöst und die sofortige Räumung der Häuser angeordnet. Die etwa 300 Bewohner hatten nur 20 Minuten Zeit, um die nötigsten Dinge zu packen. Von einem Tag auf den anderen ließen sie das Lebenswerk ihres ganzen Lebens zurück, ohne zu wissen, ob sie jemals zurückkehren können.

Neun Tage später zeigte sich, dass die Entscheidung zur Evakuierung dutzende Familienleben gerettet hatte.

Nicht alle schafften es rechtzeitig.

Obwohl die meisten evakuiert wurden, wird eine Person vermisst – ein 64-jähriger Mann, der vermutlich nicht rechtzeitig das Dorf verlassen hat. Die Suche gestaltet sich äußerst schwierig – die Schutt- und Eisschicht, die das Gebiet bedeckt, ist teils mehrere Dutzend Meter dick. Im Rettungseinsatz sind Armee, Spürhunde, Drohnen und spezialisierte Bergsteigerteams involviert. 90 % der Bebauung in Blatten und das gesamte Dorf Ried wurden zerstört. Die Infrastruktur – Straßen, Stromleitungen, Wassernetze – wurde dem Erdboden gleichgemacht.

Die Berge verlieren ihr Gleichgewicht.

Es war kein Zufall, dass die Felsen abrutschten und der Birch-Gletscher brach. Seit Jahren destabilisieren die Klimaveränderungen die Alpen – was früher stabil und berechenbar war, bricht heute immer öfter weg, taut auf und zerbricht. Der Permafrost, der jahrtausendelang die Felswände zusammenhielt, verschwindet in alarmierendem Tempo. Wenn das Eis in den Spalten schmilzt, verlieren die Steine ihr „Bindemittel“. Einige wärmere Wochen reichen aus, damit sich etwas, das bisher unbeweglich war, plötzlich zu verschieben beginnt.

Hinzu kommen intensive Niederschläge, zunehmend extreme Temperaturen, kürzere Winter und längere Hitzeperioden. All das beschleunigt das Abschmelzen der Gletscher. Der Birch-Gletscher schrumpft wie viele andere Alpen-Gletscher von Jahr zu Jahr. Er verliert Masse, Volumen und die Fähigkeit, die Umgebung zu stabilisieren.

Experten sagen klar: Katastrophen wie in Blatten werden zunehmen. Und es geht nicht nur um die Alpen – ähnliche Prozesse finden in den Pyrenäen, im Kaukasus, im Himalaya und sogar in den Tatra-Bergen statt. Das ist ein globales Phänomen, keine lokale Ausnahme.

Was nun?

Die Schweizer Behörden haben sofortige Hilfen für die Betroffenen angekündigt – sowohl finanzielle als auch psychologische Unterstützung. Spezielle Krisenfonds sollen Familien helfen, die ihr Zuhause verloren haben, und den Wiederaufbau der Infrastruktur finanzieren. Gleichzeitig wurde ein Expertenteam aus Geologen, Klimaforschern und Ingenieuren eingesetzt, das die Ursachen der Katastrophe genau untersuchen und das Risiko ähnlicher Ereignisse in anderen Alpenregionen bewerten soll.

Geplant sind außerdem Investitionen in moderne Gefahrenüberwachungssysteme. Dazu gehören seismische Sensoren, bodengestützte Radare, Drohnenbildanalyse und satellitengestützte Beobachtung von Geländeverformungen. Ziel ist nicht nur, gefährliche Bewegungen von Gesteinsmassen früher zu erkennen, sondern auch Algorithmen zu entwickeln, die den Verlauf der Situation mehrere Stunden im Voraus vorhersagen können.

Doch hier stellt sich eine Frage, die über die Technik hinausgeht: Reicht reine Reaktion aus? Zwar können Warnsysteme Leben retten, aber sie stoppen nicht den Klimawandel. Deshalb appellieren viele Wissenschaftler, parallel zu Rettungsmaßnahmen langfristige Strategien zur Anpassung und Emissionsreduzierung umzusetzen. Praktisch heißt das: bessere Raumplanung in Berggebieten, Einschränkung von Bauprojekten in Gefahrenzonen, Anpflanzung von Schutzwäldern, aber auch Investitionen in erneuerbare Energien und Klimabildung.

Es ist nicht das erste Mal.

Obwohl die Katastrophe in Blatten dramatisch war, ist sie kein Einzelfall. In den letzten Jahren erinnert die Natur uns immer öfter an ihre Kraft – und daran, wie sehr wir ihr Gleichgewicht gestört haben. Im September 2024 erlebte Europa, besonders die Region Niederschlesien, eine verheerende Flut. Innerhalb weniger Tage überschwemmten heftige Regenfälle dutzende Ortschaften, zerstörten Häuser, Schulen und Straßen. Menschen verloren den Besitz, von dem sie ihr Leben lang lebten. Zwar sind die Ursachen unterschiedlich, doch ein ähnlicher Mechanismus ist erkennbar. Der Klimawandel erhöht das Risiko extremer Wetterereignisse, und sie passieren direkt vor unseren Augen.

Es gibt mehr solcher Beispiele: 2022 rutschte in Italien ein Teil des Marmolada-Gletschers ab und tötete sieben Menschen. In Nepal schnitten mehr als 200 tödliche Überschwemmungen und Muren ganze Dörfer von der Außenwelt ab. In den Anden verschwinden Gletscher so schnell, dass lokale Gemeinschaften ihre Trinkwasserquellen verlieren. Was früher selten war, wird langsam zur Normalität.

Das zeigt: Wir sprechen nicht von Einzelfällen, sondern von einer systemischen Krise. Jede Tragödie hat ihre geografischen und sozialen Besonderheiten, doch alle sind Teil eines größeren Musters. Dieses Muster wird sich immer häufiger und schmerzhafter wiederholen. Deshalb sollten wir diese Ereignisse nicht als ferne Dramen sehen, sondern als Lektionen. Und uns fragen: Wenn es nicht das erste Mal ist – wie viele „erste Male“ liegen noch vor uns?

„Das betrifft mich nicht“.

Es stimmt, wir wohnen nicht in den Bergen – aber das heißt nicht, dass es uns nicht betrifft. Jeder von uns hat Einfluss auf das Klima – durch alltägliche Entscheidungen: womit wir fahren, was wir kaufen, wie viel Energie wir verbrauchen. Klar, wir haben das Zerbrechen des Birch-Gletschers nicht verursacht. Aber als Generation, die in einer Welt mit den Folgen des Klimawandels leben wird, haben wir das Recht – und die Pflicht –, uns dafür zu interessieren.

Es geht nicht um Idealismus oder den Verzicht auf Annehmlichkeiten, sondern um bewusstes Leben. Indem wir für kurze Strecken das Fahrrad statt das Auto nehmen, öffentliche Verkehrsmittel nutzen, Strom sparen oder regionale und saisonale Produkte kaufen, schützen wir die Umwelt. Selbst kleine Veränderungen sind wichtig, wenn viele Menschen sie machen. Außerdem hat die junge Generation eine besondere Kraft – eine Stimme und Einfluss. Durch Aktivismus, Bildung und Druck auf Entscheidungsträger können wir Veränderungen auf größerer Ebene bewirken: Investitionen in erneuerbare Energien fördern, strengere Umweltauflagen durchsetzen oder ökologische Innovationen unterstützen.

Wir sollten uns bewusst machen, dass wir in der Welt leben werden, die wir heute gestalten. Die Katastrophe in Blatten ist ein Zeichen: Es ist Zeit, das Handeln nicht länger aufzuschieben. Es geht nicht darum, sich gegenseitig die Schuld zu geben, sondern darum, zu verstehen – unsere Zukunft liegt in unseren Händen. Je schneller wir handeln, desto größer die Chance, das Unvermeidliche zu verlangsamen und das zu schützen, was uns am wichtigsten ist.

Es liegt an uns, ob kommende Generationen in einer sicheren und stabilen Welt aufwachsen können oder sich immer häufiger mit Katastrophen auseinandersetzen müssen. Warten lohnt sich nicht. Jeder hat seinen Anteil daran, unseren Planeten zu retten.

Text: Franciszka Dzumla