Seit vierzig Jahren begann jeder Morgen für Semion gleich: Tür auf, Rollladen hoch, Werkzeug auslegen.
Der Ledergeruch erfüllte des ganzen Raum. Seine kleine Werkstatt in der Seitenstraße war ein Ort, an
dem die Zeit langsamer lief. Zwischen Leisten, Fäden und Werkzeugen fühlte er sich zuhause. Jeder
Kratzer im Holz erzählte eine Geschichte, jede Schachtel enthielt Erinnerungen an Menschen, die ihm
ihre Schritte anvertraut hatten.
Eines Tages erschien sein Enkel Michailo mit einem flachen Karton. „Opa Semion, das musst du
ausprobieren“, sagte er und stellte einen schlichten Bildschirm auf die Werkbank. „Das ist eine KI. Die
hilft dir bei allem.“ Semion lachte skeptisch. Er wusste, wie man Leder bearbeitete – aber eine
Maschine?
Doch nach ein paar Tagen der Neugier gab er nach. Als erstes tippte er ein Problem ein, das ihn schon
seit Wochen beschäftigte: „Die Birkensohle löst sich immer an derselben Stelle. Warum?“ Die Antwort
kam sofort: eine Analyse des Materials, ein neuer Klebwinkel, eine Empfehlung zur Verstärkung.
Semion probierte es aus – und war verblüfft, wie präzise das Ergebnis war.
Von da an blieb die KI nicht nur ein Bildschirm in der Ecke. Sie wurde zu einer Art unsichtbarer Lehrling.
Sie berechnete Materialverbrauch, schlug nachhaltige Alternativen vor, erstellte Muster für neue
Designs. Und sie konnte sich erinnern – an Kundinnen, an besondere Wünsche, an Maße, die Semion
früher mühsam notiert hatte. Doch je mehr sie konnte, desto unruhiger wurde er. War das noch sein
Handwerk?
Am Abend beendete Semion seine Lektüre „Wovon die Menschen leben“ von Lew Nikolajewitsch T.
Weil er aber noch nicht müde war, legte er die Hände, rau vom Schleifen und Nähen, auf die Tastatur
und schreib, „Du kannst vieles schneller, aber du kennst keine Geschichten.“ Und so begann er der KI
zu erzählen: von einem Brautpaar, dessen Hochzeitsschuhe er vor dem großen Tag rettete; von einem
reichen Herrn, der immer dieselben Stiefel trug; von Kinderstiefeln, die nach Regen rochen und nach
Abenteuern.
Die KI speicherte und fragte nach. Sie lernte Muster aus Emotionen zu lesen, so wie sie zuvor nur Daten
gelesen hatte.
Eines Morgens, während Semion an einem besonders komplizierten Paar Lederschuhe arbeitete,
erschien auf dem Bildschirm ein Satz, den er nicht erwartet hatte: „Nicht die Perfektion, sondern deine
Spuren machen die Schuhe echt und wertvoll.“
Semion hielt inne. Er verstand: Die Maschine erkannte Präzision, aber er erkannte Menschen. Wo sie
Algorithmen sah, sah er Lebenswege. Wo sie Formen optimierte, hörte er das Lachen eines Kunden,
der seine neuen Schuhe zum ersten Mal anprobierte.
Er lächelte. Die KI machte ihn nicht überflüssig. Sie gab ihm etwas zurück, das er verloren glaubte – die
Neugier. Und so arbeiteten sie von da an zusammen: der alte Schuster und der junge Algorithmus. Einer
wusste, wie man Schuhe herstellt. Der andere, wie man die Zukunft ein wenig leichter macht.
~ Eine von KI generierte Erzählung mit anschließender Nachbearbeitung von Michael Materlik
Gewinner des 2. Platzes im Wettbewerb „Tradition mal anders”