Traditionen begleitet uns oft ein Leben lang- manchmal sind sie bewusst gepflegt, manchmal still vererbt von Generationen zu Generationen. Sie geben Halt, schaffen Identität und verbinden Menschen. Sie atmen, wachsen und passen sich an neue Zeiten und neue Hände an. Sie erzählen Geschichten von früher, tragen Erinnerungen in sich und schenken uns das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. In ihnen steck ein Stück Heimat, selbst wenn sich alles um uns herum verändert. In Schlesien spielt die Tradition eine wichtige Rolle und in den schlesischen Familien hatte sie eine besondere Bedeutung- sie war wie ein Versprechen zwischen den Generationen. Doch manchmal stehen wir an einem Punkt, an dem wir spüren: Eine Tradition will weiterleben, aber sie braucht neue Hände, einen neuen Atemzug, damit sie nicht verblasst.
So ist es auch in meiner Familie. Das Kochen, einst ein festes Ritual der älteren Frau im Haus, wurde zu einem Erbe voller Liebe- und Verantwortung. Heute liegt dieser Kochlöffel in meine Händen, viel früher als erwartet. Und gerade deshalb habe ich gelernt, dass Tradition nicht bricht, wenn man sie verändert. Sie wird stärker, weil man sie bewusst weiterträgt.
In meiner schlesischen Familie war das Kochen seit Generationen eine Aufgabe, die stets der ältesten Frau zufiel. Es wird keine Regel, die jemals ausgesprochen wurde, und dennoch war sie so fest in unserem Alltag verankert wie der Duft von frisch gebackenen Kuchen oder Brot in der Küche meiner Großmutter, wo ich jetzt ,,die Macht habe“. Sie kochte nicht nur Mahlzeiten- sie kochte Gemeinschaft, Wärme, Vertraulichkeit- die Speisen schmeckten, als wären sie herbeigezaubert und nicht gekocht worden. Jeder Löffel Suppe erzählte eine einzelne Geschichte: von Zeiten, in denen Zutaten knapp waren, von Festtagen, an denen der Tisch kaum Platz für all die Gerichte bot, und von Momenten, in denen wir als Familie einfach zusammenkamen, ohne besonderen Anlass, nur weil es sich richtig gut anfühlte. Ich erinnere mich noch daran, wie der Duft von gebräunten Zwiebeln durch die schlesische Küche meiner Großmutter zog, lange bevor wir am Tisch saßen.
Als Kind beobachtete ich meine Großmutter fasziniert. Ihre Bewegungen waren ruhig und sicher, fast wie eine Fee mit einem Zauberstab. Kein Kochrezept, keine Abmessungen- alles aus dem Gefühl heraus, alles getragen von Tradition, obwohl in der Schublade ein halbleeres Rezeptheft, in das nur ein Paar Worte von meiner Oma gekrizelt waren. Doch mit der Zeit verändert sich etwas: Die Generationen rückten nach, der Alltag wurde schneller, und viele Rituale drohten, still und leise zu verschwinden. Auch meine Oma wurde älter, und irgendwann kam der Tag, an dem sie mir ihren alten hölzernen Kochlöffel, sie seit Jahrzehnten benutzte gab. Warum wählte sie mich, obwohl es noch meine Mutter und zwei ältere Schwester gibt, die diese Ehre auch übernehmen konnten? Das weiß ich bis heute nicht. Vielleicht weil schon als Kind ihr gerne geholfen und bei jedem Gericht meinen Senf dazugegeben habe, obwohl ich damals keine Ahnung vom Kochen hatte.
Als ich das erste Mal allein am Herd stand und die alten Töpfe von mir klirrten, spürte ich ein leises Ziehen zwischen Ehrfurcht und Vorfreude. In diesem Moment erkannte ich, dass Tradition nicht nur bewahrt, sondern auch erneuert werden kann. Ich begann zu kochen- zunächst zögerlich, dann mit wachsendem Selbstvertrauen. Ich probierte neue Rezepte aus, ließ mir aber immer wieder von einer KI helfen: ein Tool, das mir Vorschläge machte, Zutaten ersetzte oder wenn etwas fehlte vereinfachte. Außerdem hilft es mir meine Kochkenntnisse zu verbessern und gibt die Möglichkeit, dem Gericht etwas Neues hinzuzufügen. Heute kann ich auch einige Unterschiede zwischen mir und meiner Oma sehen. Ihre Hände bewegten sich ruhig, meine vielleicht schnelle. Sie würzte aus dem Bauch, ich manchmal mit digitaler Unterstützung. Und doch trafen sich unsere Welten im Geschmack. Was für meine Großmutter die Intuition war, wurde für mich eine Kombination aus nostalgischen Erinnerungen und eigenen Ideen. Mein erster Familienmittagstisch servierte, lächelten alle überrascht- nicht, weil es anders schmeckte, sondern weil die Tradition plötzlich jünger geworden war und sie stolz auf mich waren.
Früher bereitete meine Oma unser schlesisches und allen bekanntes Familiengericht- eine einfache Kartoffelsuppe- immer nach demselben Rezept zu. Die Zutatenliste wuchs mit jeder Generation. Am Anfang brauchte man nur ein Paar Zutaten: Kartoffeln, Majoran, etwas Speck und ein großer Löffel saurer Sahne. Dann kam dazu frische Petersilie, danach Karotten in Scheiben geschnitten. Weiter veränderte sich die Form von Karotten, sie wurden gewürfelt. Meine Großmutter gab dazu Würstchen und Zwiebel. Als ich die Aufgabe übernahm, wollte ich den Geschmack bewahren, aber dennoch etwas Eigenes hinzufügen. Ich ersetzte den Speck durch geräuchertes Paprika, ergänzte frisches Gemüse und wandelte die Suppe in eine leichter, moderne Version um. So blieb der vertraute Charakter des Gericht, während es gleichzeitig eine neue Handschrift bekam- Meine.
Aber das Wichtigste bleibt doch: die Familie. Wenn wir heutzutage am Tisch sitzen und gemeinsam essen, spüre ich dieselbe Wärme wie früher in der Küche meiner Oma. Sowohl meine Gerichte als auch meine Kuchen schmecken fast wie ihre- und das sollen sie auch nicht. Falls wir uns am Tisch setzen, wird es nicht nur gegessen, sondern erzählt, gelacht, gestritten und versöhnt- es ist der wahre Ort unserer schlesischen Tradition. Alle Gerichte sind unsere Weiterentwicklung einer Tradition, die mir besonders am Herzen liegt.
Indem ich als eine der Jüngeren in diese Rolle schlüpfe, breche ich bewusst mit der alten Regel- und gleichzeitig führe ich sie fort. Denn Kochen war bei uns nie nur Pflicht. Es war ein Ausdruck von Fürsorge, ein Angebot von Zeit und Nähe. Dass ich diese Aufgabe heute übernehme, zeigt: TRADITION ist lebendig. Sie darf sich verändern, solange ihr Kern bestehen bleibt.
Noch heute, als reife junge Frau, gebe ich mein Wissen an die jüngere Generation meiner Familie weiter und lasse sie mir beim Kochen helfen oder, was uns noch mehr Freude bereitet, beim Backen. Dank dessen kann unsere Familietradition, das heißt die Zubereitung alter Familienrezepte, die seit Generationen weitergegeben wurden, weiterverbreiten und vielleicht mit der Zeit noch weiter verbreiten und diese Tradition ist wie leise Herzschläge meiner Familie.
So wird in meiner Familie weiterhin gekocht- mal anders, aber mit derselben Liebe wie früher. Und wahrscheinlich ist genau das die wahre Bedeutung von Tradition: nicht Starrheit, sondern die Fähigkeit, uns miteinander zu verbinden, egal wie sehr die Welt um uns herum wandelt. Ich hoffe, dass alle Traditionen, familiäre, schlesische, nationale oder auch globale, bei uns erhalten bleiben und weitergegeben und sogar der Welt präsentiert werden.
Jessica Szenawa
Gewinnerin des 3. Platzes im Wettbewerb „Tradition mal anders”