Als Deutscher in Polen: Ein Erfahrungsbericht

Für regelmäßig Reisende der Deutschen Bahn gehört zum guten Allgemeinwissen, dass die Frage der Pünktlichkeit ein Glücksspiel ist. Solange man kein unerschütterliches Vertrauen in Gott und Claus Weselsky hat, muss man bis zur letzten Minute damit rechnen, dass eine rauschverzerrte Stimme einen über Unpässlichkeiten in der Zugverbindung informiert. Bestenfalls müssen Sie nur fünf Minuten warten, wahrscheinlicher ist schon eine halbe Stunde, als Super-GAU wird einem der ersatzlose Totalausfall angekündigt. Stellen Sie sich also mein Erstaunen vor, als mein Zug auf die Minute genau im Hauptbahnhof eintrifft. Als ich mich schließlich bei der Suche nach meinem zugeteilten Platz in einem leeren Abteil wiederfinde, kann ich mein Glück kaum fassen. Intuitiv spiele ich mit dem Gedanken, einen Lottoschein auszufüllen.

 

Bloß nicht zu früh freuen

Nun kennen Sie sicherlich diese Komödien, wo für den Protagonisten anfangs alles verdächtig glattläuft, nur damit eine unvorhergesehene Wendung die Anarchie ausbrechen lässt. In meinem Fall besteht diese Wendung aus einer polnischen Familie: drei Personen, fünf Koffer, geschätzte 120 Dezibel. In hektischer Manier versuchen Mutter und Sohn, die zu großen Reisetaschen in die zu kleine Gepäckablage zu stopfen, nur um sich wenig später entnervt der Sinnlosigkeit dieses Vorhabens bewusst zu werden und stattdessen die Bagage überall dort zu verteilen, wo sich gerade Platz findet. Während die beiden verbleibenden Sitze, ein Großteil des Fußraums und meine rechte Armlehne dabei in Mitleidenschaft gezogen wird, macht sich mir gegenüber die Großmutter breit.

Sie müssen wissen, ich bin nahezu 2 Meter groß, bestehe zu zwei Dritteln aus Beinen und leide unter Schuhgröße 48; klein machen ist da nicht. Der deutsche Lyriker Eugen Roth meinte mal, die besten Reisen seien die, die man unterlässt – ich wünschte, das polnische Trio hätte es auch so gesehen. Als ich abends endlich in meinem Wohnheimzimmer ankomme, lasse ich bei einem polnischen Bier namens Harnaś den ersten Tag Revue passieren. Es kann nur besser werden.

 

Die Sache mit den Mitbewohnern

Allerdings ist die Tiefe des Abgrunds nüchterner Enttäuschung für hoffnungsvolle Augen wohl nicht gut abzuschätzen. Denn schon am nächsten Tag muss ich feststellen, dass ich mich getäuscht habe. Bei dem Kennenlernen meines Zimmergenossen merke ich: es geht noch viel schlimmer.

Die Sache mit den Mitbewohnern ist die, dass man sie sich nicht aussuchen kann. Sie können dein bester Freund werden oder sich als eine unerträgliche Dauerpräsenz offenbaren, die man auf unbestimmte Zeit in seinem Privatleben aushalten muss. Auf meinen Mitbewohner – wir nennen ihn einfach mal Daniel – trifft eher letzteres zu. Er schmatzt beim Essen, schnarcht beim Schlafen, furzt wo er geht und steht und telefoniert ununterbrochen. Ich erdreiste mich zu dem ironischen Ratschlag, er solle doch bitte noch ein bisschen mehr am Hörer hängen; dann könnten wir die Direktorin des Wohnheims um Erlaubnis fragen, als Nebengewerbe ein Callcenter in unserem Raum zu eröffnen. Daniel verzieht keine Miene und telefoniert unbeirrt weiter. Nach 5 Tagen wechsel ich das Zimmer.

Mein neuer Mitbewohner ist zwar sehr nett, dafür haust das Grauen jetzt nebenan. Aus dem anliegenden Zimmer darf ich mich regelmäßig bis spät in die Nacht über lautstarkes Partygegröhle und das gläserne Klirren von Bierflaschen freuen. Zu allem Überfluss scheinen die Feierwütigen das Konzept des Türklinke nicht verstanden zu haben, und so wird jedes mal mit Schmackes die Tür geknallt. Ich hasse meine Nachbarn.

 

Von Zigaretten und Zimmerpartys

Wenn Sie sich jetzt denken, dass ich meine Zeit in Polen als eine einzige, große Misere resümiere, dann irren Sie sich. Um erneut auf die Metapher mit der Komödie zurückzukommen: Trotz der unerwarteten Wendung, die aus dem heilen Glück heilloses Chaos werden lässt, gibt es am Ende ein Happy End. Meines beginnt mit der üblich lauten Geräuschkulisse einer Studentenparty aus dem Nebenzimmer; an Einschlafen ist nicht zu denken. Mit dem Gefühl endgültiger Resignation wage ich den Versuch, beim Rauchen die nötige Bettschwere zu finden, nur um in diesem Moment meinen Nachbarn auf dem Flur zu treffen. Als ich seine Frage, ob ich denn auch für ihn eine Zigarette hätte, im Halbschlaf bejahe, revanchiert er sich mit einer Einladung zu seiner Zimmerparty. So wird aus diesem krebserregenden Glimmstängel meine Eintrittskarte in das Kuriositätenkabinett polnischer Kultur.

Mir wird erklärt, dass schlesischer Dialekt sich gänzlich anders anhört als polnisch und dass in Polen der Frühling anscheinend nicht existiert, sondern vielmehr innerhalb weniger Tage klimatischer Totalverwirrung der Winter nahtlos in den Sommer übergeht. Ich erfahre, dass es in Polen weder Zigarettenautomaten noch ein Pfandsystem gibt, dass das öffentliche Trinken unter Verbot steht und Harnaś billiges Studentenbier ist (besser wären Zubr, Żywiec oder Tyskie, ich habe es wohl mit Kennern zu tun). Und schließlich bekomme ich jede Menge Empfehlungen, wo ich als Student einkaufen soll (Biedronka, Stokrotka), welche Gerichte der polnischen Küche ich unbedingt mal probiert haben muss (Pieroggi, Zurek, Kopytka) und in welchen Bars man sich ordentlich einen reinschütten kann (Highlander, Melon Pub, KillBill-Bar).

 

Ich liebe Polen

Von einer Sache bin ich jedoch besonders fasziniert . Etwas, das man nicht essen, trinken oder kaufen kann. Ein Wort mit 5 Buchstaben, das mit K beginnt, mit A endet und jeder Pole kennen dürfte. Ich lerne erstaunt, dass es in unzähligen Bedeutungen und sprachlichen Versionen daherkommt und man es zu beinahe jeder Gelegenheit und allen Emotionslagen sagen kann. Während meinem Aufenthalt in Polen höre ich es so oft, dass ich das Gefühl habe, dieser Ausdruck ist unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialem Status das einigende Moment der gesamtpolnischen Gesellschaft. Aus Rücksicht auf die journalistischen Gepflogenheiten guter Sprache darf ich es hier nicht ausschreiben, aber ich bin mir sicher, Sie wissen was ich meine.

Im Laufe des Abends komme ich zu der Ehre, Zeuge der berühmten polnischen Gastfreundlichkeit zu sein, welche nur noch von der Trinkfestigkeit übertroffen wird. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir sind auch in Deutschland im Konsumieren alkoholischer Getränke sehr geübt. Aber es ist doch bemerkenswert, dass die Trinkpausen in Polen nicht wie in Deutschland zwischen gekippten Gläsern, sondern geleerten Flaschen stattfinden. Inmitten der unzähligen Pinnchen Vodka, Kaffeelikör und bosnischem Honigschnaps wird mir massenweise selbstgemachte Wurst vom großelterlichen Bauernhof angeboten; das soll vor dem drohenden Kater schützen. Was das angeht, bin ich mir nicht so sicher, als ich am nächsten Morgen bei schon aufgehender Sonne angetrunken in mein Bett falle. Aber in diesem Zustand ist es mir sowieso egal. Ich liebe meine Nachbarn. Ich liebe Polen.

 

Text: Felix Werner