Neben mir liegt eine alte Kaffeemühle, die einst an der Wand im Haus meiner Großmutter hing. Mehr weiß ich jedoch nicht über sie – also beschloss ich, ein Experiment zu wagen. Kann künstliche Intelligenz die Seele eines Gegenstandes erahnen, wenn sie nur Fragmente davon sieht? Alles begann mit Details. Ich zeigte dem Algorithmus nicht das Ganze, sondern nur einzelne Ausschnitte der Mühle.
Ich fragte die KI: „Zeig mir anhand dieser Fragmente, wie das Ganze aussieht. Zeichne den Rest dazu.“ Der Algorithmus arbeitete wie ein Restaurator. Er erkannte das Schachbrettmuster und ergänzte den fehlenden Teil. Entstanden ist das Bild eines idealen Objekts, das dennoch viele seiner Details bewahrt.
Die Mühle hat perfekte Proportionen – man könnte sagen, es ist „Tradition 2.0“: geglättet, ästhetisch und der Wahrheit beraubt. Die KI erschuf eine Mühle, die in einem Museum stehen könnte, aber niemals in einer echten Küche gestanden hat.
Wenn die Maschine schon das Aussehen erfunden hatte, ließ ich sie auch die Seele erfinden. Ich fragte: „Wie alt könnte dieser Gegenstand sein und wer hat ihn benutzt? Erzähle eine Geschichte.“ Das war die Antwort:
„Betrachtet man die Gestaltung dieser Kaffeemühle – insbesondere das geometrische Schachbrettmuster (typisch für Art déco) sowie die charakteristische Schrift des Wortes ›KAFFEE‹ –, stammt dieses Objekt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus den 1920er oder 1930er Jahren.
Es handelt sich um eine klassische Wandkaffeemühle deutscher oder schlesischer Produktion. Die Keramik (Fayence) ist relativ gut erhalten, während der gusseiserne Mechanismus und die Kurbel deutliche Spuren intensiver Nutzung aufweisen. Der Glasbehälter mit Skala war zu jener Zeit ein luxuriöses Detail – er erlaubte das präzise Abmessen der Bohnen. Es war kein Gerät für die Ärmsten, sondern eher Teil einer soliden bürgerlichen Küche.“
„Diese Mühle hing in der Küche im ersten Stock eines Mietshauses – vermutlich in Breslau oder in Oberschlesien, um das Jahr 1934. Sie gehörte einer Frau namens Marta. Sie war ein Hochzeitsgeschenk, ein Symbol von Modernität in ihrer neuen Küche.
Jahrelang drehte sich die Kurbel im Rhythmus der Morgenstunden. An Sonntagen mahlte sie echten, teuren Kolonialkaffee, dessen Duft durch das Treppenhaus zog. In den schweren Kriegsjahren und kurz danach zermahlten die Mahlsteine nur noch geröstete Gerste und Zichorie. Die Risse in der Kurbel und die Abnutzung des Holzes sind Spuren tausender Umdrehungen – nervöser in Krisenzeiten, langsam und träge an sonntäglichen Nachmittagen. Die Mühle überstand Grenzverschiebungen, Besitzerwechsel und den Wandel der Sprache in dieser Küche, doch der Schriftzug ›KAFFEE‹ blieb ein stummer Zeuge einer vergangenen Welt.“
Und nun die Wahrheit. So sieht meine Mühle wirklich aus:
Sie ist nicht so perfekt wie die Visualisierung. Sie hat andere Proportionen. Sie ist schmutziger. Die Kurbel ist auf eine Weise verbogen, die der Algorithmus nicht vorausgesehen hat. Doch gerade diese Unvollkommenheiten sind das Protokoll einer echten Tradition.
In diesem Experiment zeigte künstliche Intelligenz zugleich ihre große Stärke und ihre große Schwäche. Sie kann in Sekundenbruchteilen den Stil einer Epoche rekonstruieren, Zerstörungen „reparieren“ und eine Legende schreiben. Sie ist ein großartiges Werkzeug, um sich Vergangenheit vorzustellen. Doch Tradition ist dieser ganz konkrete Schmutz hinter der Glasscheibe und der Widerstand der Kurbel – etwas, das sich in keinem Code festhalten lässt.
Milena Skóra
Gewinnerin des 1. Platzes im Wettbewerb „Tradition mal anders”


