Die unerzählten Geschichten
Lasst mich euch eine Geschichte erzählen, die sich vor nicht allzu vielen Jahren in unserer Region ereignete…
Es war einmal ein Mädchen, das mit ihrer großen Familie auf einem kleinen Bauernhof lebte. Ihren Alltag verbrachte sie auf dem Feld, wo sie von früh bis spät in die Nacht hart arbeiten musste. Die Familie war arm und lebte von dem, was sie sich selbst erarbeitete. Jeden Tag führten sie eine Kuh aufs Feld, damit sie dort weiden konnte. Abends kehrten sie zurück, und es warteten Kartoffeln mit Milch auf sie. Süßigkeiten oder Fleisch gab es nur an Festtagen – täglich aßen sie das, was gerade verfügbar war. Das Mädchen ging nicht zur Schule; nach der vierten Klasse musste sie den Unterricht abbrechen, um sich um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern und die Hausarbeit zu erlernen. Die Tage vergingen, und das Mädchen wuchs zu einer jungen Frau heran. Sie hatte viele Pläne, wollte zur Schule gehen, Lehrerin werden und in der Zukunft andere unterrichten. Dann jedoch kam der Krieg.
Im Dorf erkannte man noch nicht, was in der Welt vor sich ging. Viele Möglichkeiten wurden jedoch blockiert, auch wenn man versuchte, so zu leben wie zuvor. Unsere junge Frau lernte auf einer Tanzveranstaltung ihren zukünftigen Mann kennen, und kurz darauf läuteten die Hochzeitsglocken. Sie zog in das Haus seiner Eltern, und zusammen begannen sie, eine neue Familie zu gründen. Sie hatten nicht viel, aber sie hatten einander. Ein paar Jahre später dauerte der Krieg noch immer an, und man hörte, dass die Armee immer näher an die Region herankam. Viele junge Männer wurden als Soldaten rekrutiert und mussten in den Krieg ziehen. Auch ihr Mann wurde eingezogen, und so verließ er die Frau, die mit zwei kleinen Kindern allein zurückblieb. Es war eine schwierige Zeit. Es gab keinen Kontakt zu ihm, nur ein paar Briefe, die ein- bis zweimal im Jahr zu Hause ankamen.
Das Leben ging weiter. Die Frau versuchte, den Haushalt so gut es ging zu versorgen. In der Zwischenzeit starb die Schwiegermutter, und die Nachbarn halfen der jungen Frau oft, um über die Runden zu kommen. Dann kam der nächste Schlag. Es war 1945, und die Rote Armee kam in die nahegelegene Stadt. Die Dorfbewohner versuchten, sich zu schützen. Sie bauten Schlupflöcher und versuchten, in den Scheunen Platz zu schaffen, um die Kinder zu verstecken. Ein paar Tage später war es so weit: Die feindlichen Soldaten kamen. Hab und Gut wurden geplündert, viele Menschen ermordet oder vergewaltigt, Häuser wurden verbrannt, und alles wurde weggenommen. Die Soldaten zogen weiter und hinterließen nur Glut. Das kleine Mädchen vom Beginn unserer Geschichte, nun eine junge Mutter, überlebte. Sie hatte Glück; ihre Kinder blieben verschont. Was sie erlebt hatte, wurde nicht ausgesprochen. Ihr Haus existierte nicht mehr. In den kommenden Wochen und Monaten versuchte sie zusammen mit den verbleibenden Nachbarn, alles wieder aufzubauen, eine neue Existenz von Grund auf zu schaffen. Doch es war nicht leicht. Die kleine Familie musste eine neue Sprache lernen, denn Deutsch zu sprechen wurde verboten. Sie lebten in Armut und hofften, eines Tages ihren Ehemann und Vater wiederzusehen. Die schwere Zeit hinterließ Spuren in den Seelen der Beteiligten. Diese Erfahrungen wurden später nie erzählt, denn darüber zu sprechen brachte zu viel Schmerz. Sie schwiegen bis zum Schluss.
Diese Geschichte könnte die der Großmutter oder der Urgroßeltern vieler von uns sein. Sie ist ähnlich für Menschen, die in der Region Schlesien lebten, die einst zu Deutschland gehörte, dann die Kriegszeit am eigenen Leib erlebten und später ihre Häuser verlassen oder in einer anderen Realität weiterleben mussten. Es ist bedauerlich, dass wir so wenig über die Vergangenheit unserer Vorfahren wissen oder wissen wollen. Es fällt uns schwer, uns Zeit für unsere Liebsten zu nehmen, mit ihnen schwierige Gespräche zu führen und Familiengeschichten aufzuschreiben und weiterzugeben. Das ist eine der Aufgaben der Minderheiten. Sie sind ein lebendiges Zeichen der Geschichte, die vor vielen Jahren in verschiedenen Regionen stattfand. Eine Minderheit existiert auf einem Territorium aus einem bestimmten Grund. Ihre Mentalität ist stark mit der Region verbunden. Die Auflösung der Minderheiten ist wie die Löschung der Identität lokaler Gruppen – als würde man die Vergangenheit der Vorfahren ausradieren.
Dabei gibt es in Polen so viele nationale, ethnische und kulturelle Minderheiten. Offiziell existieren neun nationale Minderheitsgruppen (zum Beispiel die Deutschen, Tschechen, Ukrainer…) und vier ethnische Gruppen wie die Roma, Tataren, Karäer, Lemken sowie unzählige kulturelle Minderheiten. Ohne diese Gruppen verlören wir die facettenreiche Vielfalt unseres Heimatlandes. International sind wir stolz auf die bekannten Regionen wie Kaschubei oder das Hochland in der Region Zakopane. In Werbespots wird Polen als Land mit einer reichen und bunten regionalen Vielfalt präsentiert, um Ausländer zum Besuch anzulocken. Warum aber möchten wir auf der anderen Seite alle gleichmachen? Die Identität der polnischen Bevölkerung ist viel mehr als nur zwei Farben. Wir haben eine interessante, aber auch tragische Vergangenheit, ein großes Herz für Leidende, einen starken Glauben und sind stolz auf die Errungenschaften unserer Vorfahren. Lassen wir uns das nicht nehmen, im Namen einer gleichförmigen Gesellschaft, die sehr an eine Realität im virtuellen Universum erinnert, in der jeder eine Nummer, ein Login ist und sich mit nichts Besonderem auszeichnet.
Ein Beispiel aus der Welt: Kennst du die Geschichte der Samen in Norwegen? Es ist eine der ältesten Kulturen in Skandinavien, die über Jahrhunderte marginalisiert wurde. Jetzt bemüht man sich, die Traditionen der indigenen Bevölkerung zu bewahren und die junge Gesellschaft darüber aufzuklären. Was ist so besonders an dieser kulturellen Minderheit? Sie leben naturverbunden, und Rentierzucht ist und bleibt eine ihrer Hauptbeschäftigungen. Die uralten Traditionen werden von Generation zu Generation weitergegeben. Rund 70.000 Menschen bekennen sich zu dieser Kultur, und ihr Gebiet umfasst nicht nur Norwegen, sondern auch Finnland, Schweden und einen Teil Russlands. Besonders beliebt ist jetzt Lappland – ein Winterwunderland, wo der Schnee wirklich weiß ist und die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Dort leben die meisten Samen, und sie pflegen weiterhin ihre alltäglichen Bräuche und Rituale. Was prägt sie? Die samische Folklore ist eine äußerst reiche Sammlung von Traditionen und Bräuchen, die die Weisheit und Geschichte dieses einzigartigen Volkes widerspiegelt. Vor allem die Musik und viele Sagen spielen eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Joik, eine Form des Gesangs, ist die älteste musikalische Tradition Europas. Die Samen sprechen ihre eigene Sprache mit vielen Dialekten und tragen besondere Kleidung, die Gákti, die sie vor den rauen Wintern schützt. Auch achten sie darauf, ihre traditionellen Gerichte zuzubereiten und ihre Fähigkeiten im Handwerk zu bewahren. Wie jede Minderheit müssen sie darum kämpfen, dass ihre Identität in der sich wandelnden Gesellschaft nicht ausgelöscht wird. Der Klimawandel, die Notwendigkeit, dass junge Menschen ihre Region verlassen, um Arbeit zu finden, und die Verbindung von Tradition und Moderne sind die größten Herausforderungen dieses Volkes. Bemerkenswert ist, dass viele Initiativen gestartet werden, um die Kultur zu erhalten. Es werden Bildungsprogramme für Samen organisiert, und jedes Jahr am 6. Februar wird der Sami-Nationalfeiertag mit kulturellen Ereignissen gefeiert, inklusive eines Schlittenfestes.
Ist diese kulturelle Minderheit nicht ein wunderbares Beispiel dafür, dass die gesamte Gesellschaft von der Vielfalt profitieren kann? Wir lernen, andere zu akzeptieren und bereichern damit die Geschichte unseres Landes und Volkes. Das macht uns für die Außenwelt interessanter. Dieses Erbe darf nicht verloren gehen, und genau deshalb existieren Minderheiten. Sie schützen das oft vergessene Erbe, pflegen die Traditionen und sorgen dafür, dass die nächste Generation ihre Herkunftsgeschichte kennt. In einer globalisierten Welt ist die Existenz von Minderheiten wie ein exotischer Vogel, der mehr Farbe ins Leben bringt. Ihre Präsenz ist unbestreitbar und notwendiger denn je.
Wiktoria Ernst – die Gewinnerin des Journalismuswettbewerb „Brauchen wir heutzutage noch Minderheiten?“